Kanada Ost I

Montreal und Nova Scotia

05. Mai bis 27. Mai 2022

Der Flug von Zürich nach Montreal ist recht angenehm, trotz Maskenpflicht im Flugzeug. Eine lange Reise über den Wolken, die sich gerade rechtzeitig lockern, um die Sicht auf das noch schneebedeckte Labrador und die Eisschollen im Sankt Lorenz Strom freizugeben. Während wir Europa im Frühling verlassen haben, scheint hier der Winter noch nicht aufzugeben.

Covid Impfkontrolle, Immigration und Zollkontrolle passieren wir problemlos und zügig. Wir sind angekommen. Mit dem Flughafenbus geht’s in einer knappen Stunde zu unserem Hotel am Rande von China Town.

In den letzten Monaten haben wir Länder besucht, aus denen Menschen in neue Welten aufgebrochen sind. Jetzt sind wir in einer Stadt, die von diesen Auswanderern gegründet wurde. 1641 segelten etwa fünfzig französische Siedler, Männer und Frauen, nach Neu-Frankreich. Sie hofften, die Eingeborenen zu bekehren und eine vorbildliche katholische Gemeinschaft zu schaffen. Nach einer langen Überfahrt landete die kleine Gruppe aus der Champagne auf der Landzunge neben dem kleinen Fluss und gründete dort Ville-Marie de Montréal, nach dem Hügel Mont Réal, an dessen Hängen es liegt. Bewaffnet mit dem Glauben der Pioniere machten sich die Neuankömmlinge an die Arbeit, doch wiederholte Kriege mit den Irokesen machten den ersten Montrealern das Leben schwer, und der Traum von einer Missionssiedlung verflog allmählich.
Obwohl Montreal als Missionssiedlung begann, übertraf seine Bedeutung als Pelzhandelszentrum bald die von Quebec City, da seine Lage die Bewegung über den Sankt-Lorenz-Strom zu den Grossen Seen und nach Süden zum Golf von Mexiko ermöglichte, während der Ottawa-Fluss die Bewegungen nach Westen und Norden erleichterte. Die von diesen Wasserstrassen umschlossene Region bildete ein grosses inneres Pelzimperium – eines, das Frankreichs Rivale Grossbritannien kontrollieren wollte. Montreal ergab sich 1760 den britischen Streitkräften und wurde 1763 zusammen mit ganz Neu-Frankreich Teil des Britisch-Nordamerikanischen Imperiums.

Uns zieht es zunächst einmal in die Altstadt. Hier wird vorwiegend Französisch gesprochen, wie uns gleich beim Bestellen des Frühstückscafé bewusst wird. Für uns Schweizer natürlich kein Problem. Und noch etwas stellen wir sogleich fest: Kanada ist teuer, obendrauf kommen dann noch 15% Steuer und ebenso viel Trinkgeld. So können die Preise locker mit den Schweizer Preisen mithalten.
Direkt am Wasser gelegen, stehen die alten Häuser im Schatten der immer höher aufragenden Wolkenkratzer. Das Hôtel de Ville, der Marché Bonsecours, die Basilika Notre-Dame de Montreal, allesamt bilden sie einen interessanten Kontrast zu den modernen Hochhäusern. Schade bleiben Rathaus und Basilika hinter Baugerüsten teilweise verborgen. Petersdom in Montreal? Die Kathedrale Marie-Reine-du-Monde des Erzbistums Montreal ist eine verkleinerte Nachbildung davon.
Quer durch die Gill University wandern wir hoch auf den Mount Royal, wie der
Mont Réal hier heisst. Ja, auf der anderen Seite der Hochhäuser wir zunehmend englisch gesprochen. Weit ist der Blick über die Stadt. Ganze Reihen von alten Häusern mit lustigen Erkern und Türmchen begleiten unseren Weg nach unten. Das meiste sind Studentenwohnheime oder Büros betreffend Universität. Entlang der Rue St. Catherine reihen sich die Läden und Restaurants. Hier befinden sich unterirdische Einkaufspassagen, in denen im Winter gut beheizt flaniert, eingekauft und in den Restaurants gegessen werden kann. Wir ziehen es vor bei Sonne am Hafen ein lokales Bier zu geniessen.

Ein kurzer Flug bringt uns von Montreal nach Nova Scotia. Die Woche, bis unser Zuhause in Halifax ankommt, verbringen wir in Annapolis Royal.
Ursprünglich von einer starken Mi’kmaq-Gemeinschaft bewohnt, wurde das Gebiet noch vor Montreal zur Heimat einiger der frühesten europäischen Siedler Nordamerikas. Das idyllische Dörfchen am Wasser mit seiner historischer Vergangenheit besteht vorwiegend aus schmucken viktorianischen Häusern. Mit dem Fort Anne besitzt es Kanadas älteste nationale historische Stätte.
Die Zeit vertreiben wir uns mit kurzen Wanderungen zum Balanced Rock, an die Fundy Bay und im Kejimkujik National Park. Hier in Neuschottland ist der Frühling erst am Ankommen. Die ersten Frühlingsblumen blühen, die ersten Bäume treiben aus. Fasziniert betrachten wir die Blüten der hier vielverbreiteten Ahorn. Bereits sind die typischen Propeller im Kleinformat zu sehen.

Dann ist es an der Zeit nach Halifax überzusiedeln und die letzten Vorbereitungen für die Ankunft unseres Wohnmobils zu treffen.
Neben einem kleinen Zentrum mit modernen Hochhäusern prägen heute auch in Halifax die bunten Holzhäuser das Stadtbild. An einem Hügel gebaut, erinnert so manche Strasse an San Franzisco. Unser Sightseeing an der schön gestalteten, fast vier Kilometer langen Hafenpromenade mit Geschäften, Restaurants, Cafés und Unterhaltungsmöglichkeiten fällt Wetterbedingt eher kurz aus.
Geschichte am Rande: Am 6. Dezember 1917 ereignete sich hier in Halifax eine verheerende Explosion, als ein Munitionsschiff im Hafen explodierte. Fast 2’000 Menschen starben und rund 9’000 wurden bei der Katastrophe verletzt, die mehr als 2.5 Quadratkilometer der Stadt dem Erdboden gleichmacht.

Unser Spediteur Robert WWS hat uns die Unterlagen ein paar Tage vor Ankunft des Schiffs angesagt. Nun steht das Schiff schon seit dem frühen Morgen im Hafen, aber die Dokument haben wir noch immer nicht. Am frühen Nachmittag laufen wir zum Pier und sehen unseren Rocky bereits an Land stehen. Jetzt trifft auch endlich die erwartete Arrival Notice ein. Für den Gang zum Zoll ist es heute zu spät. Also alles morgen.
Die versprochenen Details zur Abholung beschränken sich auch nach wiederholter Nachfrage bei Robert auf: Erst Papiere stempeln beim Zoll, dann damit zum Hafen und das Fahrzeug auslösen, all easy, smooth and swifty. Na, wenn das mal gut geht! Und es geht nicht gut. Die Stempel beim Zoll sind zwar wirklich schnell und einfach auf den Papieren. Am Hafen erwartet uns aber niemand. Wir sind bei der Hafensicherheit nicht angemeldet, d.h. kein Zutritt. Wir stehen etwas verlassen da bei kalten 10° C und leichtem Regen. Also WhatsApp an Robert in den Niederlanden, er soll es richten. Wir warten; kein Dach zum unterstehen, kein Kaffee in der Nähe. Die hilfsbereiten Personen am Tor treffen währenddessen Abklärungen für uns. Der Zutritt wäre einfach zu erledigen, aber es fehlt auch noch eine Bestätigung von der Schifffahrtslinie, dass die Bezahlung der Fracht eingegangen ist. Wieder WhatsApp an Robert. In der Zwischenzeit hat der Regen sehr ernsthafte Züge angenommen. Der Mann im Wachhäuschen drückt beide Augen zu und lässt uns bei sich ans Trockene. Nach 2 Stunden warten dann endlich die frohe Nachricht: „Alles klar, ihr könnt mit euren Papieren ins Office». Leider ist gerade Mittag und das Office öffnet erst in einer Stunde wieder. Dann aber, nach rund drei Stunden in der Kälte, fahren wir mit unserem Rocky aus dem Hafengelände. Alles ok. Die Reise geht los.
In der riesigen Einkaufsmeile des Bayer’s Lake Business Parks füllen wir erst einmal unsere Tanks wieder auf: Gas, Frischwasser und den Kühlschrank. Wir entfernen die Trennwand und bauen das Fahrzeug wieder auf wohnen um. Dann fallen wir müde in unsere Betten. Es wird noch etwas dauern, bis alles wieder seinen Platz gefunden hat.

Unsere erste Fahrt mit Rocky auf dem amerikanischen Kontinent führt uns in das 90 km südwestlich von Halifax gelegene Hafenstädtchen Lunenburg. Es war Heimat von knapp 50 französischsprachigen Auswanderern und trug den Namen „Merliguesche“, bevor die britische Regierung Siedler aus ganz Europa rekrutierte, um sich eine Vormachtstellung in der maritimen Region gegenüber Frankreich zu sichern. Die Neuankömmlinge stammten überwiegend aus den südwestlichen Gebieten Deutschlands (der Pfalz und Württemberg), dem französischen Fürstentum Montbéliard und der Schweiz und besassen keinerlei Kenntnisse, die in Küstenregionen von Vorteil gewesen wären. Doch durch harte Arbeit entwickelte sich das Dorf zu einem betriebsamen Hafenstädtchen. Schon die nächste Generation zeichnete sich durch erfahrene Fischer, Segler und Bootsbauer aus, welche den Ort bis heute prägen. Schliesslich wurde die Stadt in Lunenburg (bezugnehmend auf Lüneburg) umbenannt.
Lunenburg gilt als bestes Beispiel für eine von der britischen Regierung geplante Kolonialstadt. Unbeachtet der Topografie wurde der Stadt bei der Planung von London aus ein rechteckiges Strassennetz zugrunde gelegt, was zu parallelen, aber auch gefährlich steilen Strassen führte. Bei strahlendem Sonnenschein bewundern wir die abwechslungsreiche ortstypische Holzarchitektur. Der Farbenreichtum der Altstadt ergibt tolle Fotomotive.

Die Weiterfahrt zum berühmten Peggy‘s Cove bringt uns zu den beiden Gedenkstätten für die Opfer des tragischen Absturzes der Swissair SR111 im November 1998. Die beiden schlicht gestalteten Orte bilden zusammen mit der Absturzstelle auf hoher See ein Dreieck.

Peggy’s Cove ist eine kleine Fischergemeinde, die nur einen Steinwurf von Halifax entfernt in der St. Margaret’s Bay liegt. Es besteht aus einer ziemlich kleinen Sammlung der uns nun schon bekannten Holzhäuser, die in verschiedenen Pastellfarben gestrichen sind. Es ist ein typisches malerisches Fischerdorf. Hummerfallen und Fischernetze säumen die Strasse und Fischerboote den Kai. Der Name Peggy’s Cove soll von einem jungen Mädchen namens Peggy stammen, das im 18. Jahrhundert einen Bewohner des Dorfes Cove heiratete, nachdem es ein Schiffsuntergang überlebt hatte.
In Neuschottland soll es über 160 Leuchttürme geben, aber sicher ist keiner berühmter und mehr fotografiert als der Turm in Peggy’s Cove. Er ist auf riesigen Felsen in der St. Margareths Bay gebaut. Diese Felsen wurden im Laufe der Jahre vom Meer völlig glatt poliert. Der klassische rot-weisse Leuchtturm überblickt noch heute die arbeitenden Fischer auf den Hummerbooten. Jetzt in der Vorsaison haben wir das Glück, den Turm fast für uns allein zu haben.

Entlang der Atlantikküste fahren wir nordwärts bis nach Cape Breton Island. Die Landschaft ist hinreissend faszinierend, die Natur ist am Erwachen aus dem Winterschlaf, die meisten Bäume spriessen in frischen Frühlingsgrün. Wälder mit alten, knorrigen Bäumen; kleine, schwarze Seen; verträumte Buchten; kleine, schmucke Dörfchen mit ihren farbigen Holzhäusern. Immer mal wieder ist die Sicht frei auf das Meer mit felsigem Ufer. Dann schwimmen unzählige farbige Punkte im Wasser.
Es sind die Bojen, die die Reussen der Hummerfischer markieren. Uns macht es Spass ihnen beim Heben der Reussen zuzuschauen. Die sicherlich schwere Arbeit schaut sich für uns wie ein Schauspiel, ein Ritual, ein Tanz auf dem Meer an: Das Boot fährt auf eine Boje zu. Ein Fischer fasst sie zielsicher mit dem Stachel und zieht sie ins Boot. Das Seil wird in eine Winde eingehängt und schon bald erscheint die Reusse. Schwupps ist sie an Bord. Während das Boot eine oder mehrere Runden an der Stelle im Kreis fährt, sortieren flinke Hände den Inhalt aus. Zu kleine Hummer, Weibchen mit Eier und Beifang werden ins Meer zurückgeworfen, der eigentliche Fang bekommt Gummibänder über die Scheren und wird in Kisten aussortiert. Ein neuer Köder in die Falle und schon fällt die Reusse zurück ins Meer, kurze Zeit später fliegt die Boje hinterher. Der Tanz ist beendet und auf geht’s zur nächsten Boje. So werden in Kanada jährlich über 90‘000 t Lobster «gelandet». Übrigens, der grösste jemals registrierte Hummer wurde 1977 in Nova Scotia gefangen und wog 20 kg!
Zum Übernachten finden wir auf iOverlander einige einsame Plätzchen, wo uns dann die lokalen Bewohner besuchen. Einmal ist es ein Weisswedelhirsch, der uns Eindringlinge erstaunt besichtigt – oder vielleicht auch nur unseren Rocky bewundert -, dann sind es Hasen, Eichhörnchen und natürlich eine ganze Menge verschiedener Vögel. Während die meisten unserer gefiederten Freunde nicht auf einem Foto verewigt werden wollen, präsentieren sich uns die amerikanischen Robins/Rotkehlchen gerne und in grosser Anzahl.

Als Fischereihafen, Militärbasis und Handelszentrum war Louisbourg kurzzeitig von grosser Bedeutung im französischen Überseeimperium. Die Heimat einer verpflanzten europäischen Zivilisation blühte weniger als ein halbes Jahrhundert lang auf und wurde dann durch die militärische Eroberung der Briten ausgelöscht. Keines seiner Bauwerke überlebte die nächsten zwei Jahrhunderte. 1961 begann die kanadische Regierung mit einem 25-Millionen-Dollar-Projekt, das darauf abzielte, etwa ein Viertel der ursprünglichen Stadt und Befestigungsanlagen zu rekonstruieren. «Französische Soldaten marschieren durch die Strassen der Stadt, während Damen in formellen Salons tanzen. Kanonenfeuer erschüttert den Boden, während Cembalo-Melodien sich mit den Aromen von gebackenem Brot vermischen, die aus der Steinbäckerei wehen. Umgeben von der felsigen Küste von Cape Breton, zurückversetzt in das französische Kolonialleben.» So preist Nova Scotia Tourismus die rekonstruierte Festung von Louisbourg an. Für uns sind die Tore zu Festung zwar offen, das versprochene Spektakel bleibt aber aus. Dieses findet erst in der Hauptsaison ab Juli statt. Schade.

Im Alexander Graham Bell Museum in Baddeck erhalten wir einen Einblick in das aussergewöhnliche Wirken eines weltberühmten Ingenieurs, Erfinders, Wissenschaftlers und Menschenfreund. Sein Genie hat dazu beigetragen, Dinge zu verändern und die moderne Welt zu formen. Bell besass hier in Baddeck ein Ferienhaus, in dem er regelmässig einen beträchtlichen Teil des Jahres verbrachte. Vor allem als Erfinder des Telefons bekannt, war er auch ein Pionier auf dem Gebiet der Gehörlosenbildung. Seine Fantasie und weitreichende Neugier führten ihn zu wissenschaftlichen Experimenten in Bereichen wie Schallübertragung, Medizin, Luftfahrt, Schiffstechnik und Raumrahmenbau.

Bereits am Eingang zum Cabot Trail heisst uns ein Seeadler willkommen. Bei der Ausfahrt von der Fähre sitzt er stolz auf einem Strommasten und lässt sich nicht stören. So haben wir uns den Cape-Breton-Highlands-Nationalpark vorgestellt. Natur pur im Überfluss. Dass wir noch keinen Indian Summer mit seinen gelb-rot leuchtenden Ahornbäumen erleben werden, war uns voll bewusst. Dass jedoch in der zweiten Maihälfte die Laubbäume noch kahl sind , überrascht uns doch. So erleben wir die rosaroten Klippen, die Wirkung der üppigen, bewaldeten Flussschluchten bleibt aber aus.
Ganz an der nördlichsten Spitze von Cape Breton Island haben wir einen Zeltplatz ausgemacht. Die Strasse dahin ist abenteuerlich in den Hang gebaut. Steil hinauf und steil hinunter geht es immer wieder, die geteerte Strasse ist schon lange zu Ende. Aber für Rocky natürlich kein Problem. Das Wetter wird immer schlechter, die Aussicht auch. An eine Wanderung ist hier nicht zu denken. Und dann ist auch noch der Zeltplatz geschlossen. Entmutigt drehen wir um.
Doch es wir noch schlimmer. Einer der bezauberndsten Orte Kanadas, wo die Berge auf das Meer treffen, verhüllt sich uns in dichtem Nebel. Am Höhenmesser sehen wir, dass wir inzwischen auf über 400 müM angelangt sind. Am Strassenrand liegen letzte Reste von Schnee! Die wohl tollen Aussichtspunkte lassen wir aus, wir können sowieso nur knapp die Tannen und die kahlen Laubbäume links und rechts der Strasse erkennen.
Ausserhalb des Parks klart es auf, wie soll es anders sein. Die Natur zeigt sich versöhnlich. Zum Übernachten finden wir ein ruhiges Plätzchen an einer stillen Bucht, dass wir mit einem Paar Weisskopfseeadlern teilen.

Wir sind zurück an der Bay of Fundy. Im oberen Teil, im sogenannten Minas Becken, finden sich die grössten Gezeitenunterschiede der Welt. Diese beobachten wir in Burntcoat Head, einem kleinen Tidepark ohne viel Tourismus. Ein bewaldetes Inselchen direkt an der Küste macht den unterschiedlichen Wasserstand eindrücklich sichtbar.
Die unvorstellbare Menge von 160 Milliarden Tonnen Wasser bewegt sich im Spiel von Ebbe und Flut zweimal am Tag in die Bucht hinein und wieder heraus. Wer ist schuld an diesem Naturphänomen, dass sich jeden Tag in der Bay of Fundy mit unvorstellbarer Macht und Gewalt abspielt? Natürlich unser Nachbar, der Mond. Denn der Erdtrabant sorgt für die Gezeiten, Ebbe und Flut mit seiner Anziehungskraft. In die Bay of Fundy, deren Namen sich von der portugiesischen Namensgebung Rio Fondo, das heisst Tiefer Fluss, ableitet, scheint sich der Mond besonders verliebt zu haben. 13 Meter beträgt der Tidenhub bei Normalhochwasser, bis zu 16 Metern bei Springflut und bei einem Sturmereignis im Jahr 1869 wurden sogar 21,5 Meter gemessen.
Etwas wissenschaftlicher erklärt, erhöht der Trichtereffekt der Bay of Fundy die Magnitude der Flut. Jede Bucht hat je nach Länge und Küstenlinie eine natürliche Schwingungsperiode. Da die natürliche Schwingungsperiode der Bay of Fundy nur 40 Minuten von der Zeit zwischen den Gezeiten abweicht, führt dies zu noch grösseren Gezeiten. Die Gezeiten bewegen sich wie ein Pendel hin und her und brauchen nur einen kleinen Schubs vom Atlantik, um sie in Gang zu halten.
Als wir in Burntcoat Head ankommen, ist das Wasser noch am gehen. Ebbe ist erst am Nachmittag um 4:14 h, Flut dann etwas über 6 Stunden später, abends um 10:27h. Da es dann schon dunkel ist, übernachten wir hier auf dem Parkplatz und warten bis zur Flut am nächsten Mittag. Mit Maria und Viktor aus Uzwil verbringen wir eine sehr kurzweilige Wartezeit. Ihr schweizer Wohnmobil stand schon auf dem Parkplatz, als wir ankamen. Zusammen laufen wir auf dem Meeresgrund bis ans Wasser. Mit blossem Auge können wir gut erkennen, wie das Wasser zurückweicht. Das geht ja auch sehr schnell, theoretisch 2.5 cm pro Minute. Bei farbenprächtigen Sonnenuntergang kontrollieren wir den Wasserstand und erleben gerade, wie das Wasser vor dem Inselchen zusammenfliesst. Nach einer ruhigen Nacht stehen wir am Morgen gemeinsam wieder vor dem Meer. Es ist jetzt voll. Unsere Spuren von gestern liegen jetzt 10 m unter Wasser.

Noch ein anderes Phänomen der grossen Tide wollen wir uns ansehen, eine Tidal Bore oder Gezeitenwelle. Eine Gezeitenwelle entsteht, wenn die Vorderkante der Flut eine Welle oder eine Wasserwand bildet, die stromaufwärts fliesst. Diese Welle entsteht, wenn der Fluss flacher wird und die Geschwindigkeit des einströmenden Wassers durch Reibungswiderstand verlangsamt wird. Wasserfluten von hinten überholen und überfluten die Vorderkante, wodurch der Eindruck einer Welle entsteht, die sich stromaufwärts bewegt. Hinter der Welle ändert der Fluss seine Richtung und fliesst stromaufwärts, bis die Flut wieder nachlässt.
Auf dem Weg zu den Joggins Fossil Cliffs überqueren wir den River Hebert, den die Tide zweimal täglich hinaufströmt. Die Cliffs sind schnell gesehen, den der eisige Wind treibt uns schnell in das warme Wohnmobil zurück. Vor der Brücke über den River Hebert parken wir für die Nacht. So können wir die Welle zweimal beobachten. Im strömenden Regen gehen wir zum Flussufer. Aber die Welle ist schon vorbei. Die Zeiten vom Guide bei den Fossil Cliffs waren wohl falsch, der Fluss fliesst bereits aufwärts.

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